Autriche, février 1934
Un jalon dans la résistance contre le fascisme [1]
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reproduits selon les sources d’origine
Otto Bauer: Rede auf dem Parteitag de SDAPDÖ, 1927 [2]
Unsere andre Aufgabe besteht darin, daß wir die Arbeiterklasse selbst möglichst kampffähig, möglichst widerstandsfähig machen müssen gegen die Gefahren, die uns heute drohen. Dazu ist verschiedenes notwendig. Zunächst möchte ich eines sagen: Jeder Arbeiter und jede noch so kleine Arbeiterorganisation muß heute verstehen, daß wir durch eine gewisse Gefahrenzone hindurchgehen und daß wir der Gefahren, die uns drohen, uns nur erwehren können durch eine verschärfte, verstärkte, gestraffte Disziplin.
Es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß der Faschismus ein Interesse daran hat, uns zu neuen gewaltsamen Zusammenstößen zu provozieren, uns vor die Gewehre und Karabiner der Polizei, der Gendarmerie und des Heeres zu locken. Das stellt uns vor allem die Aufgabe, nicht in die Falle zu laufen, die man uns stellt. Der Faschismus wird aber auch alles daransetzen, das Streikrecht der öffentlichen Angestellten umzubringen. Jeder Streik in einem lebensnotwendigen Betrieb schließt heute die Gefahr einer Einmengung der Faschisten in der einen oder andern Form ein, die dann die ganze Arbeiterklasse zu einem Abwehrkampf auf Leben und Tod zwingen könnte. Es ist ganz klar, daß das besondere Vorsicht im gewerkschaftlichen Kampfe erfordert. Wenn wir diese Gefahrenzone passieren wollen, so haben wir vor allem zwei Gedanken jedem Arbeiter einzuprägen. Der eine ist: Keine Demonstrationen, die zu gewaltsamen Zusammenstößen führen können, ohne ausdrücklichen Beschluß der Gesamtheit. Der andre ist: Kein Streik in lebensnotwendigen Betrieben ohne Einverständnis der gewerkschaftlichen Gesamtorganisationen.
Genossen, wir nehmen dem Faschismus seine wichtigste Gelegenheit weg, wenn wir imstande sind, die politische, die gewerkschaftliche Disziplin mit solcher Strenge durchzuführen. Eine zweite Aufgabe, die vor uns steht, ist folgende: Es ist in den letzten Wochen von Renner und andern Genossen die Frage aufgeworfen worden, ob Osterreich nach einer inneren Abrüstung, nach einer gegenseitigen Abrüstung der Parteien streben soll. Neu ist das Problem nicht. Es ist vor kurzem erst vom Genossen Deutsch auf der Reichskonferenz des Schutzbundes daran erinnert worden, daß wir schon vor dem 15. Juli[3] im Parlament gesagt haben, wenn die Gegner ernsthaft über eine innere Abrüstung verhandeln wollen, wir sind dazu bereit. Wir haben in den Revolutionsjahren einerseits unserem Heer eine Organisation gegeben, die uns vor reaktionären Gefahren schützen sollte, und wir haben anderseits unsere Ordnerorganisation aufgestellt, aus welcher dann später der Republikanische Schutzbund hervorgegangen ist. Das waren historische Notwendigkeiten dieser Zeit der Revolution, um uns gegen monarchistische und später gegen faschistische Gefahren zu schützen. Ich gebe zu, daß es in einer geänderten historischen Situation sehr wohl möglich und zweckmäßig sein kann, die Wehrpolitik, die wir damals begründet haben, zu revidieren. Ich gebe zu, daß unter Umständen auch eine innere Abrüstung ein Mittel zum Schutz der Republik und der Arbeiterklasse gegen drohende Gefahren sein könnte. Ich lehne also ein Streben nach einem Abrüstungsabkommen durchaus nicht unbedingt ab. Klar und einleuchtend ist nur: Eine Verständigung über die Abrüstung setzt einen verständigungsbereiten, verständigungswilligen und verständigungsreifen Gegner voraus. Niemand kann glauben, daß die Regierung Seipel heute ein solcher Gegner wäre.
Deswegen halte ich es nicht für nützlich, wenn man von Abrüstung redet, weil das die Tatkraft unserer Genossen auf Gebieten verkleinern könnte, auf denen wir diese Tatkraft leider noch nicht entbehren könnten. Ich glaube, wir müssen von dieser Stelle aus unseren Genossen im Republikanischen Schutzbund sagen: Wir erwarten, daß sie im Bewußtsein ihrer großen, schicksalsschweren, wesentlich vergrößerten Verantwortung ihre Arbeit fortsetzen, daß wir aber auch hinzusetzen, daß die Partei noch mehr als früher die Pflicht empfindet, dem Republikanischen Schutzbund bei seiner Arbeit zu helfen. Ich halte es aber auch für unsere Pflicht, daß wir von dieser Stelle aus unseren Genossen in den Kasernen, welche all die Jahre einen immer schwerer werdenden Kampf gegen ein ganz infames System des Terrors und der Korruption im Geiste wahrer proletarischer Selbstaufopferung geführt haben, für diesen Kampf danken, ihnen sagen, was wir von ihnen erwarten, daß sie auch weiterhin jede Position mit der gleichen Zähigkeit und Opferwilligkeit wie bisher verteidigen werden, so lange, bis wir ihnen von politischer Seite aus Entsatz zu bringen imstande sein werden.
Aber so wichtig, Genossen, auch all das ist, das Wichtigste ist es nicht. Das Wichtigste, um uns wirklich in unserer Kampffähigkeit zu stärken gegen alle Gefahren, dünkt mir dies: die Arbeiterschaft in einem geistigen und moralischen Zustand höchster Kampffähigkeit zu erhalten. Dazu scheint es mir allerdings notwendig zu sein, einiges mit größter Deutlichkeit zu sagen, zur Warnung vor sehr gefährlichen Gedankengängen, die in den letzten Monaten und Wochen in der Partei entstanden sind. Wir haben nach dem 15. Juli manche Genossen kritisieren gehört, unsere “Diktion”, unsere Redeweise, die Schreibweise der Arbeiter-Zeitung, die ganze Art, wie wir sprechen und schreiben, habe den Machtwillen der Arbeiterschaft übersteigert, die Arbeiterschaft zu Machtillusionen verleitet, habe zur Folge gehabt, daß innerhalb der Arbeiterschaft sich romantischer Glaube an die Gewalt erhalten habe. Und man sagt uns: All das sei mitschuldig an der Explosion des 15. Juli, und anderseits habe all das die Gewaltromantik auf der andern Seite, den Faschismus, genährt und gesteigert. Die Genossen, die so sprechen, haben uns gesagt, es sei höchste Zeit, daß wir die Arbeiterschaft von den Illusionen und von der Romantik zur Nüchternheit des demokratischen Kampfes zurückführen, und diejenigen Arbeiter, die eben nicht imstande seien, romantischen Illusionen zu entsagen und sich in die nüchternen Kampfmethoden der Demokratie zu finden, diese Arbeiter, so hat man uns empfohlen, mögen wir ruhig zu den Kommunisten gehen lassen. Der Genosse Trebitsch war nicht der erste, der diesen Gedankengang ausgesprochen hat, aber er hat ihm in seiner Broschüre über den 15. Juli und seine Lehren[4] einen besonders eindrucksvollen und für mich besonders anfechtbaren Ausdruck gegeben. Denn, Genossen, hier stehen wir vor einer Gefahr, die viel größer ist als die Gefahr aller Koalitionsvorschläge, vor der Gefahr, daß einige Genossen in einer Stunde des Kleinmuts an das greifen, was dem großen Körper unserer Partei überhaupt erst Leben gibt, nämlich an die Seele des Sozialismus.
Den Willen zur Macht, sagt man uns, hätten wir zu sehr geweckt! Es waren viel größere Mächte als wir, die den Willen zur Macht in den Arbeitermassen nicht nur Österreichs, sondern der ganzen Welt geweckt haben. Diese Arbeiterklasse, die im Kriege gesehen hat, was die Macht der Bourgeoisie bedeutet hat, die in der Revolution sich der Macht, ihrer Macht, greifbar nahe geglaubt hat, diese Arbeiterklasse, die in der Folge das berauschend große Schauspiel der russischen Revolution erlebt hat, sie ist natürlich erfüllt worden von einem starken Drange zur Macht. Und was ist geschehen? Die Arbeiterklasse stieß auf die bittere Tatsache, daß die Demokratie die von der Arbeiterklasse erkämpfte, die von der Arbeiterklasse der Bourgeoisie aufgezwungene Demokratie, sich nach einem kurzen Zwischenspiel in ein Machtinstrument der Bourgeoisie verwandelt hat. So sind viele Arbeiter in allen Ländern an der Demokratie irre geworden, so ist der große Zwiespalt zwischen demokratischen und bolschewistischen Methoden in der Arbeiterklasse aufgerissen worden, der die Arbeiter so vieler Länder verhängnisvoll gespalten hat. Uns in Österreich ist es gelungen, uns das zu ersparen. Wir haben die Einheit, das kostbarste Gut der Arbeiterbewegung, wir haben das große Erbe von Hainfeld in dieser Zeit bewahrt, in der die Arbeiterparteien anderer Länder gespalten und zersplittert worden sind. Warum ist uns das gelungen? Aus vielen Gründen, aber auch aus folgendem Grunde: Hier in Österreich ist es uns gelungen, die Arbeiter zu überzeugen, daß sie nicht in fernen Zeiten, sondern in dieser Generation die Staatsmacht erobern können, auf dem Boden der Demokratie und mit den Mitteln der Demokratie, wenn wir nur einig bleiben, und wenn wir nur die demokratischen Kampfmittel zu verteidigen entschlossen bleiben. Wenn ich nach der vorletzten Wahl den österreichischen Arbeitern zu sagen gewagt habe: Noch dreihunderttausend oder dreihundert- fünfzigtausend Stimmen und ihr habt die Macht, wenn ihr wollt, so mögen heute Neunmalweise darüber spotten, in Wirklichkeit ist diese Zahl nichts andres als der schlagwortmäßige Ausdruck des Gedankens: Ihr könnt auf dem Boden der Demokratie mit den Mitteln der Demokratie siegen, wenn ihr wollt.
Daß uns das gelungen ist, die österreichischen Arbeiter davon zu überzeugen, das dünkt mir zunächst einmal auch eine Leistung für die Demokratie, in einer Zeit, in der die Arbeiter andrer Länder an der Demokratie so irre geworden sind, eine vielleicht doch etwas größere Leistung als gewisse demokratische Traktätlein. Aber vor allem war es für uns eine Leistung für die Arbeiterklasse, denn damit haben wir verhütet, daß der Streit um Demokratie und Gewalt auch hier die Arbeiter spalte, auch hier die Arbeiterpartei zerreiße in feindliche Lager. Es gibt Genossen, die dieses Gut der Einheit der Arbeiterbewegung in Österreich als etwas so Selbstverständliches genießen, daß sie nicht mehr zu begreifen scheinen, welch entsetzliche Katastrophe es wäre, wenn man so in aller Ruhe, wie man uns empfiehlt, die Arbeiterklasse sich spalten ließe.
Da gibt es Genossen, die sagen: "Laßt die halbkommunistischen Wildlinge zu den Kommunisten hinübergehen. Wir werden dann um so ungestörter unsere schöpferische Reformarbeit fortsetzen." Glauben Sie das ja nicht! Sie werden dann keine Reformarbeit mehr fortzusetzen haben! Stellen Sie sich doch vor, wenn die österreichische Arbeiterschaft so gespalten wäre, wie es die reichs- deutsche oder die tschechoslowakische ist: Es gäbe ja dann kaum noch in einer Industriegemeinde eine verwaltungsfähige sozialistische Mehrheit! Wie das wäre, wenn in jedem Gemeindebetrieb Sozialisten und Kommunisten um die Arbeiterschaft ringen würden: Es gäbe keine Möglichkeit mehr für eine erfolgreiche Gemeindeverwaltung! Dieses rote Wien, das nicht nur in ganz Österreich, sondern in der ganzen Welt für den Sozialismus wirbt, das nicht nur unser Stolz ist, sondern ein Stolz der ganzen Internationale, es würde nicht existieren an dem Tage, wo wir leichtfertig die österreichische Arbeiterschaft sich spalten ließen!
Genossen! Der marxistische Sozialismus ist die Synthese eines nüchternen Realismus, der die kapitalistische Welt so sieht, wie sie ist, und keine Illusionen zuläßt über das, was die Arbeiterbewegung innerhalb der kapitalistischen Welt erreichen kann, mit einem revolutionären Enthusiasmus, der alle Teilbewegungen der Arbeiterklasse, denen der Kapitalismus so enge Schranken setzt, einmünden läßt in den Kampf um die Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, um die Gründung einer neuen Gesellschaft, Kultur, einer neuen Menschheit.
Diese große Synthese, die geht überall dort verloren, wo die Arbeiterklasse gespalten ist. Wo die Arbeiterschaft zerrissen ist, treten die Gegensätze, die eben in der marxistischen Synthese aufgehoben sind, einander wieder unvermittelt gegenüber: auf der einen Seite eine Arbeiterpartei voll von revolutionärem Schwung, aber ohne jede Fähigkeit, die Welt nüchtern zu sehen, auf der andern Seite eine Arbeiterpartei voll von nüchternem, verantwortungsbewußtem Realismus, aber ohne revolutionären Enthusiasmus und damit ohne den großen Schwung, der die Arbeiterschaft begeistert und die Jugend an der Arbeiterpartei festhält. Sehen Sie, den Genossen, die so leichthin sagen, man könnte auch hier eine Spaltung riskieren, denen möchte ich sagen, was ich sooft gegen die Kommunisten gesagt habe: Hundertmal lieber einen falschen Weg einig gehen — denn Fehler kann man dann wieder korrigieren ‑ als um des rechten Weges willen uns spalten.
Genossen, denken wir doch an diese österreichische Arbeiterschaft, was sie erlebt hat und wie sie ist: Sie ist hindurchgegangen durch Krieg und Blockade, durch Inflation und Teuerung, hindurchgegangen durch die Stabilisierungskrise mit Arbeitslosigkeit und Lohndruck, sie hat Löhne, die halb so hoch sind wie die Löhne der Arbeiter in den andern Industriestaaten, sie leidet unter einer Arbeitslosigkeit von unvergleichlicher Größe. Und da kommt man uns und klagt uns an: "Ja, eure Denkweise, eure Redeweise, eure Ideologie, sie hat diese Menschen verleitet, sich von der Leidenschaft einmal hinreißen zu lassen!"
Wir dürfen stolz sein auf den nüchternen Realismus einer Ideologie, die zwar nicht verhüten konnte, daß ein paar Tausend Menschen einmal in diesen Jahren von wilder, begreiflicher Leidenschaft übermannt worden sind, die aber doch diese Massen so erzogen hat, daß sie diese ganzen Jahre trotz all der ungeheuren Not ihre Kraft nicht vergeudet haben in wilden Zornesexplosionen, sondern sie verwendet haben im planmäßigen, organisierten, zielbewußten, sozialdemokratischen Kampf. Wir wollen noch mehr stolz sein auf den revolutionären Enthusiasmus einer Ideologie, die die Massen, die furchtbarste Enttäuschungen immer wieder erlebt haben, nicht in Kleinmut, in Indifferenz hat verfallen lassen, sondern indem sie ihnen die Eroberung der Macht auf dem Boden der Demokratie als ein greifbares Ziel aufgezeigt hat, ihre Begeisterung und ihre Tatkraft geweckt hat und ihren Willen zur Organisation und zur politischen Arbeit aufs höchste gesteigert hat. Und die, was vielleicht andern Arbeiterparteien nicht so gelungen ist wie uns, mit leidenschaftlicher Glut die Jugend dieser Arbeiterschaft angezogen hat in dieser überaus wirrenreichen Nachkriegszeit und sie mit Begeisterung erfüllt hat und die, Genossen, was nicht das Kleinste ist, in das düstere Elendsleben dieser Massen ein bißchen Glanz, ein bißchen Hoffnung, ein bißchen Größe und viel Siegeszuversicht gebracht hat. Genossen! Das werden wir uns nicht nehmen lassen, das werden wir zu verteidigen wissen, denn das wäre zu viel, was uns damit verloren ginge, wenn wir daran rühren ließen in einer Stunde des Kleinmuts oder der Enttäuschung. Genossen! Wir stehen im Kampfe gegen den Faschismus. Solange wir in einer Gedankenwelt und bei einer Politik bleiben, die es versteht, in den Massen Begeisterung zu erzeugen, die für unsere große Sache zu arbeiten und zu kämpfen und zu leben versteht, aber, wenn man uns wirklich angriffe, auch zu sterben fähig wäre, so lange furchte ich keinen Faschismus. Genossen, gewiß, wir wollen an jene Hunderttausende sorgenbeladener Familienväter und Familienmütter in den Fabriken und in den Werkstätten, in den Forsten und in den Bergwerken denken, gewiß, sie haben ein Recht, von uns zu verlangen, daß wir uns leiten lassen von Besonnenheit und Vorsicht, denn wir sind verantwortlich für das Schicksal von Hunderttausenden von Familien. Aber Genossen, in all der Klugheit und Nüchternheit und Besonnenheit vergessen wir doch auch nicht die leuchtenden, die nach einem Ideal hungrigen Augen unserer Jugend, und verstehen wir wohl: Nur was die Massen wirklich begeistern, was dem heranwachsenden Geschlecht ein wirkliches Lebensziel geben kann, nur das ist wirklich unbesiegbar!
Otto Bauer: Rede auf dem Parteitag de SDAPDÖ, 1928[5]
Aber etwas andres gibt es, was ich ‑ das gestehe ich ganz offen ‑ wirklich fürchte. Sehen Sie, nach meiner Überzeugung haben diese Putschisten, die sich in der nächsten Umgebung des Herrn Steidle und des Herrn Pfrimer aufhalten und ihren Generalstab bilden[6], einen ganz bestimmten Plan. Diese Herren gehen von folgender Erwägung uns: wenn es zu einem Volksentscheid, zu einem Wahlkampf kommen sollte, in dem das Volk in aller Ruhe und Klarheit über die Wohnungspolitik entscheidet, dann spricht die größte Wahrscheinlichkeit für einen sozial-demokratischen Sieg. Die Herren möchten das stören und fragen sich, wie sie es stören können, und da kehren sie zurück zu dem alten Mittel aller Reaktion; sie sagen sich, das günstigste, womit sie die Entscheidung des Volkes für sich, für die Reaktion, für die Mieterschutzfeinde wenden können, ist, wenn es ihnen gelingt, eine Stimmung sozialer Panik zu erzeugen, eine Stimmung, wo sie den Kleinbürger und den Bauern einschüchtern, ihnen Angst machen könnten vor dem drohenden Gespenst des Bolschewismus, des Terrors, der Anarchie. Und sehen Sie, Genossen, aus diesem Grunde bin ich überzeugt, daß die Heimwehrleute ganz planmäßig die Politik machen, die Arbeiterschaft planmäßig absichtlich und bewußt zu gewaltsamen Zusammenstößen zu provozieren, weil sie diese Zusammenstöße brauchen, um für den Fall, daß das Volk in absehbarer Zeit zur Entscheidung gerufen werden sollte, jene Entscheidung von der Frage des Mieterschutzes abzulenken. Angesichts dieses Versuches, von dem ich keinen Moment zweifle, daß er ganz bewußt, absichtlich und frivol unternommen wird ‑ was liegt den Herren an vergossenem Menschenblut, wenn Hausherrenrenten in Frage stehen ‑, muß unsere Taktik sehr kaltblütig sein. Nicht etwa, als ob ich zu irgendeiner Schwäche gegenüber den Heimwehrleuten, zu irgendeinem Zurückweichen vor ihnen raten würde, Nein, Genossen! Aber sowenig ich irgendwie für ein Zurückweichen bin, das den Fascismus ermutigen könnte, sosehr bin ich der Meinung, daß es eine ganz wichtige Aufgabe der Partei und jedes einzelnen Vertrauensmannes ist, allen unseren Genossen verständlich zu machen, daß gewaltsame Zusammenstöße mit den Heimwehren nicht unser Interesse sind. Sie haben ein Interesse an ihnen. Das ist es, was sie brauchen, um das Volk zu verwirren, um es gewaltsam vom Mieterschutz abzulenken und auf andre Dinge hinüberzuführen. Wir nicht! Unser Interesse ist es, uns nicht ablenken zu lassen, das Volk nicht ablenken zu lassen, damit es in voller Ruhe, in voller Klarheit über den Mieterschutz und über nichts als den Mieterschutz entscheidet, deswegen meine ich, werden wir vor den Herren nicht zurückweichen. Aber wir werden uns von ihnen nicht das Gesetz unseres Handelns diktieren lassen. Wir müssen uns darüber klar sein: gegenüber einem Gegner, dessen stärkste Leidenschaften jetzt geweckt sind ‑ denn was sonst in der Welt weckt ihre Leidenschaften, wenn nicht ein winkender Spekulationsprofit ‑, gegenüber einem Gegner, dem es deshalb weder an Entschlossenheit noch an Schlauheit noch an Verantwortungslosigkeit fehlt, kann man nicht siegen mit einer Taktik, die geleitet ist nur von der blinden Leidenschaft, sondern man kann nur dann siegen, wenn man seine Taktik so nüchtern und so besonnen bestimmt, wie ein Feldherr au seinem Tisch vor seinen Landkarten, der rechnend und wägend überlegt, wo Offensive, wann Defensive, wann den rechten, wann den linken Flügel einsetzen, der nicht in Leidenschaft, sondern in kluger Zielbewußtheit die Mittel wählt, die nicht dem Gegner dienen, sondern den Feind schlagen.
Otto Bauer: Rede auf dem Parteitag de SDAPDÖ, 1929[7]
Es gibt nur ein einziges Mittel, wenn man verhindern will, daß die Republik in den Bürgerkrieg und damit in den wirtschaftlichen Ruin hineinschlittert, und dieses einzige Mittel ist die innere Abrüstung.
Unsere Stellung zur Frage der inneren Abrüstung, das ist unsere Stellung zur Frage der Rolle der Gewalt im Klassenkampf. Wir haben diese Frage programmatisch auf dem Linzer Parteitag[8], im Linzer Programm, geklärt, und um dieses Linzer Programm hat sich dann eine Legende gesponnen, gesponnen aus Mißverständnis, aus Unwissenheit und bewußter Lüge, eine Legende, die dann so weiter gewuchert ist, daß heute, wie ich wohl weiß, selbst manche Parteigenossen schon unter ihrem Einfluß stehen.
Wir haben nach dem Kriege die ungeheuerste Tragödie der internationalen Arbeiterbewegung erlebt. Wir haben große Parteien, die Vorbild und Stolz für uns gewesen sind, zerschellen gesehen in dem großen Kampfe zwischen Demokratie und Diktatur. Wir haben gespalten gesehen die große mächtige deutsche Sozialdemokratie, gespalten die französische sozialistische Partei, gespalten die deutsche wie die tschechische Partei in der Tschechoslowakei. Wir haben hier selbst in den ersten Jahren nach dem Umsturz auf dem Boden der Arbeiterräte, in den Betriebsversammlungen, in den Konferenzen hart gerungen mit den Versuchungen der bolschewistischen Ideologie, auch auf einen Teil unserer eigenen Arbeitermassen. Wir waren erschüttert von dem Kampfe der Ideen in der ganzen Welt des internationalen Sozialismus. Aber wir waren schließlich, als wir nach Linz gingen, so weit, das; wir nach dem geistigen Ringen von Jahren, auf Grund der Erfahrungen von Jahren, nun endlich die Debatte über die Funktion der Gewalt im politischen Kampf abschließen konnten und programmatisch den Erkenntnissen, zu denen wir uns durchgerungen hatten, Ausdruck geben konnten. Wir haben im Linzer Parteiprogramm über den Weg, den wir gehen wollen, wörtlich gesagt:
In der demokratischen Republik beruht die politische Herrschaft der Bourgeoisie nicht mehr auf politischen Privilegien, sondern darauf, daß sie mittels ihrer wirtschaftlichen Macht, mittels der Macht der Tradition, mittels der Presse, der Schule und der Kirche die Mehrheit des Volkes unter ihrem geistigen Einfluß zu erhalten vermag. Gelingt es der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, diesen Einfluß zu überwinden, die manuellen und die geistigen Arbeiter in Stadt und Land zu vereinigen und der Arbeiterklasse die ihr nahestehenden Schichten der Kleinbauernschaft, des Kleinbürgertums, der Intelligenz als Bundesgenossen zu gewinnen, so gewinnt die sozialdemokratische Arbeiterpartei die Mehrheit des Volkes. Sie erobert durch die Entscheidung des allgemeinen Wahlrechtes die Staatsmacht.
So werden in der demokratischen Republik die Klassenkämpfe zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse im Ringen der beiden Klassen um die Seele der Volksmehrheit entschieden.
Es hat noch nie und nirgends ein sozialdemokratisches Programm der Welt so klar, so unzweideutig gesagt, welchen Weg wir gehen wollen, den Weg der Entscheidung durch das allgemeine Wahlrecht, wie es hier heißt. den Weg des Kampfes um die Mehrheit, den Weg des Kampfes um die Seele des Volkes. Es ist wirklich nur in einem Lande möglich, in dem das Lesen nicht zu den Gewohnheiten der Politiker gehört, den demokratischen Charakter dieses Programms anzuzweifeln. Aber das Programm geht noch weiter. Es spricht davon, was sein wird, wenn die Sozialdemokratie die Mehrheit des Volkes für sich gewinnen wird und sagt:
Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei wird die Staatsmacht in den Formen der Demokratie und unter allen Bürgschaften der Demokratie ausüben. Die demokratischen Bürgschaften geben die Gewähr dafür, daß die sozialdemokratische Regierung unter ständiger Kontrolle der unter der Führung der Arbeiterklasse vereinigten Volksmehrheit handeln und dieser Volksmehrheit verantwortlich bleiben wird. Die demokratischen Bürgschaften werden es ermöglichen, den Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung unter den günstigsten Bedingungen, unter ungehemmter tätigster Teilnahme der Volksmassen zu vollziehen.
Man kann keine schärfere Kennzeichnung des Gegensatzes unseres demokratischen Sozialismus von allen diktatorischen Sozialismen formulieren. Der Bolschewismus hat uns entgegengehalten: Wie, im Kampfe um die Seele der Mehrheit wollt ihr siegen? Aber bevor ihr die Mehrheit habt, wird der Fascismus seine Maschinengewehre auffahren lassen. Darauf haben wir geantwortet: Wir wollen den Weg der Demokratie gehen mit dem Stimmzettel, aber auf Geschosse aus Maschinengewehren kann freilich nicht der Stimmzettel antworten, und wenn dieser Fall einträte, dann wäre das der Fall, der einzige Fall, bei dem wir uns mit Gewalt wehren würden.
Der Bolschewismus hat uns weiter entgegengehalten: Wie, wenn ihr die Mehrheit erobert habt, wollt ihr demokratisch regieren? Aber die Bourgeoisie wird eure Regierung sabotieren, Rebellionen anzetteln, sich mit dem Ausland gegen euch verschwören! Wir haben darauf geantwortet: Wir wollen alle Bürgschaften der Demokratie, aber natürlich, gegen Rebellionen einer Minderheit, gegen Hochverrat, werde sich natürlich auch eine sozialdemokratische Regierung mit allen Mitteln wehren, so wie auch jede andre Demokratie. Und aus diesen Antworten an den Bolschewismus hat die Legende gemacht, daß wir den Weg der Gewalt, der Diktatur gehen wollen! Genossen! Ich glaube, daß es notwendig war. daran zu erinnern, weil gerade dieser Gedanke des Linzer Programms uns leiten muß bei der Besprechung des Problems der Abrüstung, das das Problem der Rolle der Gewalt in unserem Kampfe ist. Genossen, wir haben die Theorie, die dieses Linzer Programm formuliert hat, in Linz selbst die Theorie der ausschließlich defensiven Rolle der Gewalt im Klassenkampf genannt, und aus dieser Rolle folgt unsere Stellung zu den Organisationen der Gewalt. Wir haben dem Grundsatz des Linzer Programms getreu immer daran festgehalten, wir brauchen keine Gewaltorganisationen, wenn die Demokratie nicht durch gegnerische Gewaltorganisationen bedroht ist, wir können eine Gewaltorganisation nicht entbehren, solange eine solche Bedrohung durch gegnerische Gewaltorganisationen besteht.
Von diesem Standpunkt ausgehend, haben wir schon vor der Gründung des Republikanischen Schutzbundes gesagt, daß wir diese Gründung unterlassen, wenn die andern ihre Gewaltorganisationen auflösen. Wir haben seitdem immer und immer wieder den Gegnern gesagt, daß wir bereit sind, unsere Gewaltorganisation aufzulösen, wenn ihre Gewaltorganisationen abrüsten. Wir haben uns immer wieder zur inneren Abrüstung bereit erklärt. Keine dieser Erklärungen hat irgendein Echo im bürgerlichen Lager gefunden. Genossen, heute genügt es nach meiner Überzeugung nicht mehr, wenn wir unsere Bereitschaft zur inneren Abrüstung erklären, sondern heute, glaube ich. müssen wir weiter gehen, heute, glaube ich, müssen wir die innere Abrüstung als ein Kampfziel aufstellen, das wir erkämpfen wollen.
Aber wenn wir das wollen, müssen wir uns ganz klar sein, was die innere Abrüstung ist und was sie auch für uns an Verzicht bedeutet. Gewöhnlich redet man so, die innere Abrüstung, das sei die Entwaffnung der Bevölkerung. Die bloße Entwaffnung wäre ein sehr schweres, ja nach meiner Meinung sogar ein unlösbares Problem. Schon rein technisch ist Entwaffnen natürlich leichter in der Stadt als auf dem Lande. Das könnte eine sehr einseitige Entwaffnung werden. Und weiter stellen Sie sich die Behörden vor, die die Entwaffnung durchzuführen hätten: eine Entwaffnung von der Tiroler Landesregierung oder von den steirischen Bezirkshauptmannschaften durchgeführt, das könnte eine ehrliche Entwaffnung werden! Aber ich glaube gar nicht, daß es auf diesem Wege überhaupt geht. Ich glaube, wenn man zur Entwaffnung schließlich kommen will, so muß man mit etwas ganz anderm anfangen: nämlich mit der einfachen Auflösung aller dieser Wehrformationen und dem Verbot ihrer Neugründung. Wenn erst einmal diese Formationen aufgelöst werden, wenn erst einmal die Generalstäbe verschwänden, in denen da pensionierte Offiziere ihre Kenntnisse, die sich in früherer Zeit nicht immer bewährt haben, in der Entwerfung von Plänen für den Bürgerkrieg verwenden, wenn erst einmal diese Aufmärsche verschwänden und aufhörten, die die Bevölkerung täglich beunruhigen und die den inneren Kampf mit militaristischer Denkweise erfüllen, wenn erst einmal die Organisationen mit ihrer Betätigung weg wären, dann würde dieses militärische Denken aufhören, dann würde es erst möglich sein, größere Waffenbestände aufzufinden und zu beschlagnahmen, und was da etwa nicht gefunden würde, würde unschädlich, von selbst verrosten. Das ist nach meiner Überzeugung der einzige Weg. Ich sage das mit voller Absicht, denn wenn die Partei den Kampf um die innere Abrüstung führen will, muß sie wissen, welches Opfer für sie die innere Abrüstung bedeutet. Wir können natürlich die Auflösung der fascistischen Wehrformationen nicht durchsetzen, ohne daß gleichzeitig der Republikanische Schutzbund aufgelöst würde.
Niemand täusche sich, daß der Moment, wo wir den Republikanischen Schutzbund verlieren würden, ein Moment schwerster Erschütterung für die Arbeiterklasse und die Partei wäre, für alle diese Zehntausende bester Genossen, die im Schutzbund selbst tätig sind. Wir kennen alle die Tätigkeit unserer Genossen im Schutzbund: alle Tage im opferreichsten Dienst für die Partei, wir sehen, wie sie nach der schwersten Tagesarbeit den Abend und die Nacht opfern, um im Wachdienst für die Arbeiterklasse zu dienen, wie sie nach der Wochenarbeit Sonntage opfern, um unsere Sicherheit und die Sicherheit der Republik zu bewachen, wie sie mit der größten Opferwilligkeit in den Kampf gehen, welche Blutopfer sie zu beklagen hatten in diesen Kämpfen. Wenn die Arbeiterklasse den Schutzbund sieht, so sieht sie in ihm den eisernen, diszipliniertesten Kern, um den sie sich schart, eine Quelle der Zuversicht: die ganze Arbeiterklasse wäre um ein wesentliches, von stärkstem Gefühlswert erfülltes Element armer, wenn sie den Schutzbund eines Tages nicht hätte. Ich kenne also die Krise, die die wirkliche innere Abrüstung für uns selbst bedeuten würde; und doch, in voller Kenntnis dieser Gefahren bekenne ich offen, daß es gar keinen andern Weg gibt, als auf alle Gefahren hin die innere Abrüstung den widerstrebenden Gegnern aufzuzwingen, wenn die Republik vor der Katastrophe des Bürgerkrieges bewahrt werden soll. Allerdings, ich muß dazu zwei wesentliche Einschränkungen machen. Das erste, Genossen, ist, daß die Arbeiterschaft niemals die innere Abrüstung wirklich durchführen wird, wenn nicht wirklich ernsthaft durch die schärfste Kontrolle, durch unsere eigene Mitkontrolle, durch die Mitkontrolle des Republikanischen Schutzbundes Garantien dafür geschaffen werden, daß auf der andern Seite ebenso abgerüstet wird.
Das zweite aber, was ich sagen muß, ist folgendes: Geben wir uns keiner Täuschung darüber hin: wer die Feigheit der bürgerlichen Parteien gegenüber den Fascisten diese ganzen Jahre hindurch gesehen hat, der weiß, sie werden es nicht so bald wagen, die Auflösung der Heimwehren zu dekretieren, das wird noch einen schweren Kampf und einen Kampf durch geraume Zeit kosten. und deswegen, Genossen, so entschieden wir uns die innere Abrüstung als Ziel setzen müssen, so lebensgefährlich für die Sicherheit der Arbeiterklasse wäre es, wenn wir nicht ebenso entschieden entschlossen wären, solange die innere Abrüstung noch nicht erreicht ist, solange die Gegner noch rüsten und von der inneren Abrüstung nichts wissen wollen, unsere ganze Kraft an die Stärkung und den Ausbau des Republikanischen Schutzbundes zu setzen.
Und da sage ich Ihnen ganz offen, Genossen, daß wir dafür noch viel zu wenig getan haben. Man war kleinlich in der Beistellung der finanziellen Mittel für den Schutzbund, man hat in vielen Organisationen die Werbearbeit für den Schutzbund nicht genug unterstützt. Ich glaube, es wäre gefährlich, wenn man von der inneren Abrüstung redet, wenn man nicht ganz klar hinzusetzen würde: Wir werden nie zur inneren Abrüstung kommen, wenn der Gegner etwa glaubte, daß wir vorzeitig abrüsten, während er noch weiter rüstet. Im Gegenteil: wenn wir unsere Pflicht erfüllen und dem Schutzbund die Unterstützung geben, die er braucht, dann kann der Schutzbund, dessen Mitgliedschaft schon in den letzten Wochen mächtig gewachsen ist, in ganz kurzer Zeit ein so gewaltiges zahlenmäßiges Übergewicht über alle fascistischen Organisationen bekommen, daß dann mit den andern über die innere Abrüstung leichter zu reden sein wird.
Wenn aber die bürgerlichen Parteien zu feig sind zur Auflösung aller Wehrformationen, dann müssen wir den Weg suchen, das Volk selbst über diese Frage entscheiden zu lassen. Und dann ist mir um den Ausgang nicht bange. Denn wie immer sich feige Minister und feige Parlamentarier gegen zwingende Notwendigkeiten des Landes wehren mögen, dessen bin ich sicher: wenn das Volk zur Entscheidung über die Fragen der inneren Abrüstung berufen würde, daß da mehr als neunzig Prozent der Frauen und mehr als achtzig Prozent der Männer für die innere Abrüstung stimmen werden.
Karl Renner: Rede auf dem Parteitag de SDAPDÖ, 1929[9]
Es haben nun die Redner fast aller Teile Österreichs einmütig kundgetan, daß sie in der Abwehr zum äußersten entschlossen sind, sie haben einmütig kundgetan, daß sie hinter Wien stehen, und sie haben einmütig der entschlossenen Haltung des Parteivorstandes zugestimmt. Ich kann dazu noch ein Geheimnis verraten: die Beschlüsse des Parteivorstandes sind ebenso einmütig gefaßt worden. Ich möchte aber nicht, daß ein falscher Eindruck entsteht, ich möchte nicht, daß irgend jemand meint, die ganze österreichische Sozialdemokratie starre nun hypnotisiert auf die Heimwehr und sehe nicht mehr die andern Gefahren, nicht mehr den inneren Zusammenhang der Dinge.
Ich möchte von einer andern Gefahr sprechen, unter der wir als Sozialdemokratie leiden, unter der unsere Arbeiterschaft, unter der die ganze Politik leidet und die wir nicht gering veranschlagen dürfen. Diese andre Gefahr ist, daß das Bürgertum, das uns durch die Mehrheitsverhältnisse zu regieren berufen ist, schlecht geführt ist und uns nicht regieren kann.
Unser Bürgertum ist von der Demokratie überrascht worden; wir haben die Demokratie erkämpft und wir verstehen sie zu gebrauchen. Unser Bürgertum hat sich immer darauf verlassen, daß es von der k. u. k. Bürokratie regiert wird. Unser Bürgertum hat nicht so wie das französische oder englische in der Behandlung staatlicher Probleme auch nur das elementarste Geschick bewiesen. Daher kommt unser Leid. Wir können nicht regieren, weil wir die Minderheit sind, und die andern nicht, weil sie es nicht verstehen. Unser Bürgertum ist fern von jeder Erkenntnis der realen Dinge. Es lebt von den Legenden, die es sich bildet. Da haben Sie die Legende von dem großen Staatsmann Seipel. Um das Unglück dieser ganzen bürgerlichen Politik zu beurteilen, genügt es, auf die Erfolge dieses Mannes hinzuweisen. Er ist ausgezogen, die Sozialdemokraten zu spalten, den "kommunistischen" Flügel abzuspalten, einen Gegensatz zwischen Renner und Bauer herzustellen, die Sozialdemokratie einflußlos zu machen und zu vernichten. Was ist das Ende vom Lied? Wir sind einiger als wir jemals waren. Die christlichsoziale Partei ist in heller Auflösung und nicht mehr imstande, für den Verfassungsausschuß einen Obmann zu finden. Wenn ein großer Staatsmann derjenige ist, der immer das Gegenteil von dem erreicht, was er anstrebt, ist Seipel ein großer Staatsmann. Die Christlichsozialen und die Bürgerlichen haben die Legende verbreitet, wir Sozialdemokraten seien ein Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung. Die Sozialpolitik sei das Hindernis der wirtschaftlichen Entwicklung. Sie könnten so herrlich wirtschaften, wenn wir sie nicht hemmen würden. Ich weiß nicht, worin wir die Bodenkreditanstalt gehemmt haben. Sie haben gewirtschaftet, alle Wirtschaftressorts des Staates verwaltet, und das Ende vom Lied ist eine wirtschaftliche Katastrophe, der sie mit Müh und Not entronnen sind, indem sich diese Antisemiten nach einem sechzigjährigen Kampfe gegen das Judentum unter die schützenden, rettenden Fittiche des Hauses Rothschild geflüchtet haben.
Wenn es ein großer Staatsmann, ist, wer das Gegenteil dessen bewirkt, was er ankündigt, so ist Seipel ein großer Staatsmann. Mit der Heimwehr haben sie gemeint, uns zu besiegen. Sie haben eine Truppe aufgestellt mit eigenen Generalen und Offizieren, und siehe, diese Truppe hat bemerkt, daß die Sozialdemokraten nicht zu besiegen sind. Genossen, es ist sehr wesentlich, daß wir ihnen überall und an allen Orten entschlossen beweisen: Uns werden sie nicht besiegen. Aber die Herrschaften sagen sich: Siegen müssen wir einmal irgendwo. Das ist beinahe eine Frage des Brotes, also kehrt euch!, marschieren wir gegen das Bürgertum! Heute weiß das Bürgertum, soweit es parteipolitisch orientiert ist, daß die Heimwehr uns nichts anhaben wird, daß sie aber das politische Parteiensystem vollständig über den Haufen werfen kann. Wieder der entgegengesetzte Erfolg von dem, was man angestrebt hat.
Das ist der Beweis dafür, daß das Bürgertum schlecht geführt ist, politisch schlecht geführt ist, denn wenn auch diese Mehrheit des Bürgertums nicht groß und nicht überwältigend ist, so sehen wir, daß in andern Ländern das Bürgertum mit einer solchen Mehrheit zu regieren versteht. Aber unser Bürgertum versteht es nicht. Da es die Demokratie nicht handhaben kann ‑ hoffen wir, noch nicht handhaben kann ‑, da es zu den richtigen führenden Köpfen nicht kommen kann, so kommt das Bürgertum notwendigerweise zu der Überzeugung, es gehe halt nur mit der Gewalt.
Eine der Hauptquellen der Heimwehrmacht ist diese Schwäche und Unfähigkeit des Bürgertums. Und weil dem so ist, so ist uns manchmal ein harter Zwang auferlegt, ein staatsmännischer Zwang. Wir müssen mit unserem Bürgertum manchmal Geduld haben. Auch in der Heimwehrsache müssen wir mit unserem Bürgertum Geduld haben. Wir wissen freilich nicht und können keine Garantie dafür übernehmen, ob das Bürgertum imstande sein wird, vernünftig zu werden; deshalb darf sich niemand darauf verlassen, daß das Bürgertum Vernunft annehmen und begreifen wird, daß die erste Voraussetzung jeder bürgerlichen Wirtschaftsweise die Geltung von Reckt und Gesetz ist, daß es diese Voraussetzung in dem Augenblick verliert, wo es uns gegenüber das Gesetz bricht und die Gewalt losbindet: denn die Gesetzlosigkeit ist zu allen Zeiten der Anfang jeder Revolution gewesen.
Dieses Bürgertum wird also lernen müssen, sich von den Legenden freizumachen, mit denen es sich selber gefüttert hat Ein deutsches Sprichwort spricht von einem Lügner, der an seinen eigenen Lügen erstickt Ich will das Sprichwort umschreiben: Es besteht die Gefahr, daß das Bürgertum an seinen Legenden erstickt, daß es zu keiner klaren Erkenntnis der Dinge kommt, daß es sich nicht vernünftig verhält, weil es seine eigenen Lügen nicht durchschaut, sondern an sie glaubt.
Es ist tatsächlich eine der schlimmsten politischen Dinge, in welcher Weise die bürgerliche Presse, die christlichsoziale sowohl wie die liberale, das Linzer Programm mißdeutet hat, und es ist von größtem Wert, daß gerade Otto Bauer heute wieder den wahren Wortlaut der Linzer Beschlüsse vorgetragen hat, daß er selber, als Mitschöpfer ersten Ranges, bekundet hat: Ja, wir wollen, solange es auf uns ankommt, nichts andres als den Sieg durch Demokratie, wir wollen im Augenblick, wo wir gesiegt haben, unsere Macht mit allen Kautelen der Demokratie ausüben.
Es ist völlig klar, daß wir nichts wollen als die Demokratie, aber ebenso klar und so unzweideutig ist es, daß wir jeden Versuch einer Diktatur mit eisener Energie abwehren werden.
Es ist jedermann, dem ersten Vertrauensmann wie dem letzten Gefolgsmann, klar, was die Diktatur bedeutet. Wenn alles auf dem Spiele steht, dann werden wir auch alles einsetzen. Aber wenn ich sage, ich werde mich nicht abschlachten lassen, so sage ich damit nicht, daß ich den Gegner schlachten will. Diese einfachste Logik ist unserem guten Bürgertum nicht beizubringen. Dann kommt die Legende vom Austromarxismus, als sei der Austromarxismus ein System ganz besonderer Art. An diesen Tischen hier sitzt gestern und heute der Sozialismus von ganz Europa. Es sitzt die Labour Party hier, die deutsche Sozialdemokratie, die Schweizer Bewegung, und sie alle haben ihr vollstes Einverständnis mit uns erklärt. Macdonald und die deutschen Sozialdemokraten, die in der Regierung sind, sitzen mit uns zusammen im Internationalen Büro. Es gibt unter den Austromarxistcn ‑ ich rechne mich auch zu ihnen ‑ natürlich verschiedene Meinungen wie überall. Aber es ist eine blödsinnige Legende ‑ man verzeihe mir das Wort ‑, die, ich glaube, der Mataja oder gar der Seipel erfunden hat, vom Austromarxismus als einer besonderen bolschewistischen Form der Bewegung zu faseln. Ich weiß nicht, ob die Bourgeoisie die Kraft haben wird, diese Legende abzutun. Vielleicht lernt sie nur durch die Tatsache. Wir haben in den Jahren 1918, 1919 und 1920 eine Revolution vollzogen und alle Dinge umgewandelt, aber wir mußten trotzdem die bestehende Wirtschaft zusammenhalten, und da wir die bestehende Wirtschaft nicht ohne Bourgeoisie haben konnten, so haben wir halt die Bourgeoisie mitgenommen ‑ es geht der Labour Party vorläufig auch so und allen andern ‑, nicht aus Liebe zu ihr, sondern in der Erkenntnis der wirtschaftlichen Notwendigkeit. Und nun werde ich der österreichischen Bourgeoisie prophezeien: Wenn sie die Politik fortführt, die sie bisher befolgt hat, und wenn sie nicht lernt, so wird ihr die Probe ein zweitesmal nicht erspart bleiben, und sehr bald. Dann wird die österreichische Sozialdemokratie dank ihrer klugen und festen Politik die Mehrheit in diesem Staate bekommen.
Zu den blödsinnigen Legenden gehört auch die von der Obstruktion. Man tut so, als ob das eine österreichische Erfindung, sozusagen eine austromarxistische Institution wäre. Aber die Obstruktion ist mit jedem Parlamentarismus sozusagen chronisch verbunden. Das Parlament in England wurde durch Jahrzehnte durch die Obstruktion der Iren in Bann gehalten. Diese Obstruktion war, wie jedermann heute weiß, sehr nützlich und notwendig. Die große irländische Agrarreform wäre nie möglich gewesen ohne die irische Obstruktion.
Die Obstruktionsfrage ist ein Problem der Taktik und Geschäftsordnung und ist durchaus nicht etwas unserem Lande besonders eigentümliches. Unsere Obstruktion in der Mietenfrage war nichts andres als der Versuch, die andern vor einem Fehler und vor einem wirtschaftlichen Unsinn zu behüten und ich sage im voraus, wenigstens für meine Person: die Nationalratsfraktion der Sozialdemokraten wird sich immer und unter allen Umständen das Recht vorbehalten, die bürgerlichen Parteien vor einem Unsinn und vor Fehlern zu behüten, selbst für den Fall, daß wir Obstruktion machen müssen. Wir können eine Mehrheit nicht schlechthin fehlen lassen, wenn sie aber borniert ist und absolut Fehler begehen will, gut denn, dann wollen wir es nicht hindern ‑ unter der Bedingung, daß das Volk selber entscheidet. Das ist ein ganz richtiger demokratischer Ausweg, das verlangen wir, so soll es sein. Eine organische Mehrheit, die so wie unsere Minderheit aus einer geschlossenen Weltauffassung hervorgeht, hätte das Recht, eine parlamentarisch zusammengekaufte oder zusammengefügte Mehrheit aber hat das moralische Recht nicht, uns zu verwehren, unsere Einwendungen mit allem Nachdruck zu machen. Auch diese Legende, diese Illusion muß man dem Bürgertum nehmen.
Und nun noch die Illusion einer Verfassungsreform oder eines Staatsstreiches. Eine Verfassungsreform? Du lieber Himmel! Sie meinen, die Sozialdemokraten werden sich eine Verfassungsänderung unter allen Umständen gefallen lassen. Aber es ist der einmütige Wille des Parteivorstandes und wie man sieht, der einmütige Wille des Parteitages, also der ganzen österreichischen Arbeiterklasse, daß eine Verfassungsrevision, die an die Grundrechte der Arbeiterklasse rührt, nicht mit unseren Stimmen Gesetz werden kann. Nun kommt die Idee mit dein kalten Staatsstreich, mit dem neuen § 14. Soll man sich wirklich damit herstellen? Es ist möglich, daß es in dem Bürgertum wirklich Menschen gibt, die nicht wissen, was die österreichische Arbeiterklasse ist. Jetzt haben sie Herrn Schober bestellt als Wahrer der bürgerlichen Interessen. Er hat als junger Polizeibeamter in Wien gedient und er hat eine gewisse Erfahrung, welcher Energie die Arbeiterklasse im Kampfe um Rechte fähig ist. Ich glaube nicht, daß diese Erfahrungen vergebens gewesen sind. Aber wie immer das sein soll, es ist für uns völlig klar, daß ein sogenannter kalter Staatsstreich uns gar nicht überrumpeln wird. An dem Tage, wo die Verfassung gebrochen wird, an dem Tage gibt es keine Verfassung. Gibt es keine Verfassung, so gibt es keine verfassungsmäßige Behörde und kein verfassungsmäßiges Recht mehr. Man wird uns nicht einreden, daß, wenn einer in der Herrengasse oder auf dem Ballhausplatz in dem Regierungsgebäude sitzt, er deshalb das Recht hat. Es gibt kein Recht zu regieren und zu verordnen, außer auf Grund der Verfassung. Und deshalb werden diese Dinge einfach nicht sein. Ich sage das nicht, um Drohungen auszustoßen, sondern als eine Selbstverständlichkeit, um Legendenbildungen zu zerstreuen. Unser Bürgertum muß sich einmal Mühe geben, ein bißchen was zu lernen. Vor allem andern hat es jetzt erfahren, was die österreichische Arbeiterklasse ist, und es ist ganz recht so, daß sie es erfahren hat. Ihre ganze Entschlossenheit, die aus Ihrem Verhalten auf dem Parteitag und außerhalb desselben spricht, diese Entschlossenheit war danach angetan, den Herren zu zeigen, daß die Arbeiterschaft eine granitene Mauer um die Volksrechte bildet, und daß keine Macht da ist, die diese Mauer erstürmen wird. Aber auf der andern Seite ist es unsere Pflicht, nicht nur zu rüsten und bereit zu sein und zu sagen: Es wird ja doch zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung kommen. Das wäre ganz falsch, das hieße die Heimwehr und den Mechanismus der Gewalt sehr überschätzen. Es ist nicht so, daß das der einzige Ausweg sein muß. Das kann gewiß so kommen, und also rüsten wir uns und halten wir uns bereit; aber es muß nicht so kommen. Und es ist unsere Pflicht, den andern den Ausweg zu zeigen, und das tun wir, indem wir sagen: Wir fordern die einverständliche Abrüstung. Über diese Forderung sollen sie nicht hinwegkommen; es ist der Grundgedanke aller Verfassungen, daß das Recht und nicht die Gewalt gilt. Vor jeder Verfassungsreform muß gesagt werden, daß es keine privaten Gewalten gibt. Wir werden diese Forderung zur Geltung bringen müssen; wenn sie das ablehnen, so ist natürlich nichts andres zu tun, als weiter zu rüsten und bereit zu sein, so lange, bis unsere Übermacht ihnen beweist, daß sie abrüsten müssen. Die Herren sollen es nur versuchen, sie werden am Ende selber einsehen, daß sie nicht weiter tonnen, und es wird ihnen nichts andres übrigbleiben, als Neuwahlen auszuschreiben.
Das aber ist der Moment, von dem ich gesprochen habe. Wo das Bürgertum die Probe zum zweitenmal zu bestehen haben wird. Bei diesen Neuwahlen werden wir mit den Parolen der Abrüstung im Innern, dem Aufbau der Wirtschaft, der Ausgestaltung der Sozialversicherung auf legalem und demokratischem Wege siegen.
Aufruf des Parteivorstandes der SDAPÖ, 19. Dezember 1931[10]
Arbeiter! Genossen und Genossinnen!
Was vorauszusehen war, ist geschehen: Die Hochverräter vom 13. September sind freigesprochen worden.
Es war ein wohlgesiebtes Klassengericht, das sie freigesprochen hat: nicht ein einziger Arbeiter sah auf der Geschwornenbank!
Die Regie hat vorzüglich geklappt. Alle, die Bezirkshauptleute und Gendarmerie-kommandanten, die als Zeugen einvernommen wurden, mit dem Herrn Landeshauptmann Rintelen an der Spitze, waren bemüht, für die Verräter an der Republik Stimmung zu machen.
Zwei Tote liegen in Voitsberg auf der Bahre. Auch das war notwendig, um die Geschwornen für den Freispruch zu gewinnen!
Die Putschisten haben die Regierung für abgesetzt, die Verfassung für aufgehoben erklärt. Sie haben Bezirkshauptmannschaften und Gemeindeämter besetzt. Sie haben Gemeindepolizisten und Gendarmen entwaffnet, Abgeordnete verhaftet und Geiseln ausgehoben, sie haben Arbeiterwohnungen beschossen und sind in Arbeiterwohnungen eingebrochen. Sic haben zwei brave Arbeiter ermordet. All das bleibt straflos!
Denn diese Republik ist verraten und verkauft von denen, denen ihre Sicherheit anvertraut ist!
Wir verstehen, Genossen und Genossinnen, eure Gefühle. Wir teilen sie. Aber eben deshalb mahnen wir euch pflichtgemäß, auch angesichts dieser aufreizenden Tatsache eure kaltblütige Besonnenheit zu bewahren. Das Unglück des 15. Juli darf sich nicht wiederholen. Wir wollen nicht in ziellosem Ausbruch der Wut unseren Gefühlen Ausdruck geben. Wir haben eine andere Antwort zu geben.
Der Verrat vom 13. September ist unbestraft geblieben. Dadurch ermutigt, rüsten die Aristokraten, die Generale, die Kapitalisten, die an der Spitze der Heimwehren stehen, zu einem neuen Putsch. Täglich verkündet Starhemberg die nahende "Revolution". Darauf, daß die Staatsgewalt die Republik verteidigen werde, können wir uns nicht mehr verlassen.
Wir werden unsere Freiheit das nächstemal selbst verteidigen müssen! Die Vorbereitungen unserer Abwehr schleunigst zu vollenden ‑ das muß unsere Antwort auf das Urteil von Graz und auf die Schüsse von Voitsberg sein!
Wir wollen keinen Bürgerkrieg. Wir haben seit dreizehn Jahren die größten Opfer gebracht, ihn zu vermeiden. Wir wollen auch jetzt noch, in letzter Stunde, alles tun, um zu verhüten, daß kostbares Menschenblut vergossen wird. Aber wir sind keine feigen Hunde, die sich von einer kleinen Minderheit bewaffneter Banditen niederwerfen lassen. Wenn sie uns entrechten und versklaven wollen, dann werden wir uns wehren! Dann, Genossen, auf den Trümmern des geschlagenen Faschismus, wird das wahre Volksgericht über die Faschisten tagen. Dann kommt die Stunde der Sühne für alles frevlerisch vergossene Arbeiterblut!
Darum keine Unbesonnenheiten, keine Wutausbrüche, keine nutzlosen Demonstrationen an diesem Tag! Wir werden unsere Kräfte nicht vergeuden. Wir werden sie zusammengeballt halten für die entscheidende Stunde!
Der Parteivorstand der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs.
Otto Bauer über die Ereignisse vom 12. Februar 1934[11]
Im April 1932 hatten die Landtags- und Gemeindewahlen ein sprunghaftes Anwachsen des Nationalsozialismus in Österreich gezeigt. Die Großdeutschen, seit dem erzwungenen Rücktritt Schobers in Opposition, und die Nationalsozialisten verlangten die Neuwahl des Nationalrates. Die Christlichsozialen hatten vor der Neuwahl panische Angst. Hätten wir uns in jenem Augenblick bereit gezeigt, im Nationalrat gegen die Ausschreibung von Neuwahlen zu stimmen, und hätten wir zugleich der Regierung Buresch, die noch im Amte war, zugesichert, daß wir sie in ähnlicher Weise tolerieren würden, wie die deutsche Sozialdemokratie die Regierung Brüning toleriert hat, so hätten wir die Bildung einer Koalitionsregierung der Christlichsozialen und der Landbündler mit den Heimwehren vielleicht verhüten können. Wir haben dies nicht getan. Wir hielten Neuwahlen für nützlich, damit die Nationalsozialisten in das Parlament einzögen und die Notwendigkeit, zu den konkreten wirtschaftlichen und politischen Fragen Stellung zu nehmen, ihre Demagogie demaskiere. Wir fürchteten nach den Erfahrungen der deutschen Sozialdemokratie in die Situation der Tolerierungspolitik zu geraten. Wir glaubten, daß nur eine forsche Oppositionspolitik der Sozialdemokratie verhüten könne, daß die durch die Wirtschaftskrise verelendeten und erbitterten Massen zu den Nationalsozialisten abströmen. Die Folge unserer Haltung war, daß sich die Christlichsozialen mit den Heimwehren koalierten und Dollfuß seine Regierung mit Fey bildete. Wir hatten bei den Wahlen im Herbst 1930 die erste Koalitionsregierung der Christlich- sozialen mit den Heimwehren, die Regierung Vaugoin-Starhemberg besiegt; wir haben im Jahre 1932, durch diese Erfahrung irregeführt, verkannt, daß in einem Zeitpunkt, in dem der Faschismus in Deutschland in stürmischem Aufstiege war, die Teilnahme der Faschisten an der Regierungsgewalt in Österreich weit gefährlicher werden mußte. Unsere Haltung nach den Wahlen von 1932 war also vielleicht ein Fehler; es war eine "linke Abweichung".
Wir haben noch einen solchen Fehler gemacht. Als die Regierung Dollfuß-Fey einen zweistündigen Proteststreik der Eisenbahner, der am 1. März 1933 stattgefunden hatte, mit Maßregelungen von Eisenbahnern beantwortete, suchten wir dies am 4. März durch einen Antrag im Parlament zu verhindern. Da die Regierung nur eine Mehrheit von einer Stimme hatte, kam es auf jede Stimme an. Wir verloren aber eine Stimme dadurch, daß Renner als Präsident des Nationalrates den Vorsitz führte und deshalb nicht mitstimmen konnte. Wir glaubten, es vor den Eisenbahnern nicht verantworten zu können, durch Renners Stellung als Präsidenten bei der Abstimmung zu unterliegen und damit hunderte Eisenbahner der Maßregelung preiszugeben. Deshalb hat Renner wegen eines Konflikts mit den Christlichsozialen auf meinen Rat seine Präsidentenstelle niedergelegt. Darauf haben auch der christlichsoziale und der großdeutsche Vizepräsident demissioniert. Am folgenden Tage erkämpfte Hitler in Deutschland seinen großen Wahlsieg; wir hatten im Eifer, die von der Maßregelung bedrohten Eisenbahner zu schützen, nicht bedacht, welch unmittelbaren Einfluß die Umwälzung in Deutschland auf Österreich üben konnte. So haben wir durch Renners Demission der Regierung Dollfuß den Vorwand zur Ausschaltung des Parlaments geliefert. Das war unzweifelhaft ein Fehler, ‑ auch das eine "linke Abweichung".
Das Parlament war ausgeschaltet. Die Diktatur etablierte sich. Der Versuch, am 15. März die Arbeit des Parlaments wieder aufzunehmen, wurde von Dollfuß gewaltsam verhindert. Wir hätten darauf am 15. März mit dem Generalstreik antworten können. Nie waren die Bedingungen für einen erfolgreichen Kampf so günstig wie an jenem Tage. Die deutsche Gegenrevolution, die sich eben damals stürmisch vollzog, hatte in Österreich die Massen aufgerüttelt. Die Arbeitermassen erwarteten das Signal zum Kampf. Die Eisenbahner waren damals noch nicht so zermürbt wie elf Monate später. Die militärische Organisation der Regierung war damals weit schwächer als im Februar 1934. Damals hätten wir vielleicht siegen können. Aber wir sind damals vor dem Kampf zurückgeschreckt. Wir glaubten noch, durch Verhandlungen zu einer friedlichen Lösung kommen zu können. Dollfuß hatte versprochen, daß er binnen kurzem, Ende März oder anfangs April, mit uns über eine Verfassungs- und Geschäftsordnungs-Reform verhandeln werde; wir waren damals noch töricht genug, einem Versprechen Dollfuß’ zu trauen.
Wir sind dem Kampf ausgewichen, weil wir dem Lande die Katastrophe eines blutigen Bürgerkriegs ersparen wollten. Der Bürgerkrieg ist elf Monate später trotzdem ausgebrochen, aber unter für uns wesentlich ungünstigeren Bedingungen. Es war ein Fehler, ‑ der verhängnisvollste unserer Fehler. Und diesmal war es eine "rechte Abweichung".
War unsere Politik zu "links" oder zu "rechts"? Es gibt keine Strategie, die lehren würde, daß man den Sieg unter allen Umständen im Angriff oder unter allen Umständen in der Verteidigung erkämpfen, die Entscheidung immer auf dem linken oder immer auf dem rechten Flügel herbeiführen könne. Die Probleme proletarischer Taktik in Zeiten stürmischer Entwicklung sind allzu kompliziert, als daß sie sich auf den Gegensatz von "links" und "rechts" reduzieren ließen. Die Fehler, die wir begangen haben, waren einmal "linke" und das andere Mal "rechte" Abweichungen von dem Weg, von dem wir jetzt nachträglich, in Kenntnis der späteren Ereignisse, vermuten können, daß er richtig gewesen wäre.
Aber so wenig wir Fehler leugnen wollen, die wir begangen haben, ‑ wäre die österreichische Gegenrevolution nach dem Siege des Faschismus in Deutschland überhaupt zu verhüten gewesen? Hätte eine andere Politik, eine andere Taktik sie verhüten können? Wären wir, wenn wir uns nach den Aprilwahlen von 1932 zu einer "Tolerierungspolitik" gegenüber der Regierung Buresch entschlossen hätten, nicht erst recht auf die Bahn der deutschen Sozialdemokratie geraten? Hätte, wenn Renner am 4. März seine Präsidentenstelle nicht niedergelegt hätte, die durch den Umsturz in Deutschland geschreckte Regierung nicht einen anderen Vorwand zur Ausschaltung des Parlaments gefunden? Hätte, wenn wir am 15. März 1933 losgeschlagen hätten, der Bürgerkrieg nicht die Koalition der Schwarzen mit den Braunen herbeigeführt, die damals ja noch nicht so verfeindet waren wie jetzt, und dadurch Hitler zum Herrn Österreichs gemacht?
Die ungarische Sozialdemokratie hat im Jahre 1919, die italienische bis zum Jahre 1922 eine "linke", revolutionäre, dem Kommunismus verwandte Politik getrieben, ‑ sie endete in beiden Ländern mit einer Katastrophe. Die deutsche Sozialdemokratie hat umgekehrt einen sehr staatsmännischen, sehr nationalen, sehr "rechten" Weg gewählt, ‑ sie ist gleichfalls geschlagen worden. Wir haben in Österreich zwischen dem italienisch-ungarischen und dem deutschen Extrem einen mittleren Weg zu gehen versucht, ‑ wir sind gleichfalls geschlagen.
Karl Renner über die Ereignisse vom 12. Februar 1934[12]
Der sozialdemokratische Parteivorstand ist zum letztenmal Donnerstag, den 8. Februar, versammelt. Wohl darüber unterrichtet, daß der Schlag für Mittwoch geplant ist, beraumt er die nächste Sitzung auf Montag an, entschlossen, auf keinen Fall selbst das Signal zum Bürgerkrieg zu geben, sondern den Angriff von oben abzuwarten und der Regierung die Verantwortung zu überlassen. Trotz der Ungunst der äußeren und inneren Umstände, ohne viel Hoffnung auf den Sieg, ist man zur Verteidigung der republikanischen Verfassung und damit der eigenen politischen Existenz entschlossen, aber bloß zur Verteidigung. Folgt ihr auch ein nennenswerter Teil des Bürgertums und der Bauernschaft, so ist die Republik gerettet, bleibt man allein, so ist der Kampf aussichtslos. Aber er muß um der Ehre der Fahne willen aufgenommen werden.
Der Bürgerkrieg
Unverhoffte Vorfälle stören alle Erwartungen. Die im höchsten Grade erregte Arbeiterschaft liest am Sonntag die Ankündigungen Feys und Schönburgs, das Interview Starhembergs, ein Interview Funders, das auf dasselbe hinausläuft, sie liest auch, daß in Paris der Generalstreik verkündet ist. Sie hält Disziplin, obschon diese durch die Ausschaltung des Parlaments, durch die Auflösung des Schutzbundes, durch die Verfolgung der "Arbeiter-Zeitung", durch die Verhaftung der Schutzbundführer auf die härteste Probe gestellt ist. Sie hält sie, soweit unter diesen Erschwernissen die Beschlüsse sie erreichen. Aber in Linz, wo am Montagmorgen eine Waffensuche im dortigen Arbeiterheim ausbricht, setzt sich die Arbeiterschaft im Heim zur Wehr, die ersten Schüsse fallen. Das Unheil ist im Lauf: Ehe der Parteivorstand zusammentreten kann, bricht auch in Wien der Streik aus, und zwei Tage vor der Zeit läuft wie ein Uhrwerk der Aktionsplan der Regierung ab. Noch vor der Stunde seines Zusammentretens sind die Mitglieder des Parteivorstandes verhaftet, ebenso alle sozialdemokratischen Mandatare des Bundes und der Gemeinde Wien, alle namhaften Vertrauensmänner der Gewerkschaften. Die politische Partei ist aufgelöst, alle ihre wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Vereinigungen ebenso, alles Vermögen, das irgendwie mit der Arbeiterbewegung zusammenhängt, beschlagnahmt. Der Sicherheitsminister Fey führt das Kommando in Wien, Militär, Polizei, Heimatschutz und Schutzkorps sind aufgeboten, und in dreitägigem Kampf wird die Erhebung niedergeworfen. Die Gefängnisse und Konzentrationslager füllen sich mit Tausenden der Vorkämpfer der österreichischen Arbeiterklasse, das Standgericht führt viele von ihnen zum Tode.
Österreich ist damit reif gemacht, in seiner inneren Politik dem Vorbild des italienischen Faschismus zu folgen.
Notes
[1]. Nous reproduisons ce texte avec l’accord du responsable du site 321ignition.free.fr.
[2]. Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs, abgehalten in Wien, 29. Oktober bis 1. November 1927, Wiener Volksbuchhandlung, 1927, S. 103‑130 (hier S. 123‑130).
Abgedruckt in:
Otto Bauer: Werkausgabe Band 5, Europa Verlag, 1978, S. 467‑492 (hier S. 486‑492).
[3]. Am 30. Januar 1927 wurde in Schattendorf, einem Ort im Burgenland, eine Gruppe von Angehörigen des Republikanischen Schutzbundes beschossen. Ein Mann und ein Kind wurden tödlich verwundet. Die Täter wurden verhaftet, der Prozess begann in Wien am 5. Juli und endete am 14. Juli mit einem Freispruch. Am 15. Juli kam es vor dem Justizpalast zu Demonstrationen sozialdemokratischer Arbeiter. Berittene Polizei wurde gegen die Arbeiter eingesetzt. Die Menge stürmte den Justizpalast, Aktenberge wurden in Brand gesetzt und die Flammen griffen auf das Gebäude über. Auch eine Polizeiwache und das Redaktionsgebäude der christlichsozialen Reichspost brannten. Die Polizei eröffnete das Feuer, mindestens 89 Personen wurden getötet, darunter fünf Polizisten, mehr als 600 Personen wurden schwer, mehr als tausend leicht verletzt. Es kam auch im Wiener Bezirk Hernals zum Sturm auf mehrere Polizeistellen, wobei zwei Personen getötet wurden.
[4]. Oskar Trebitsch: Der 15. Juli und seine rechte Lehre, Wien, Bugra Verlag, 1927.
[5]. Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs, abgehalten in Wien, 14. bis 17. September 1928, Wiener Volksbuchhandlung, 1928, S. 18‑27 (hier S. 26‑27).
Abgedruckt in:
Otto Bauer: Werkausgabe Band 3, Europa Verlag, 1976, S. 667‑694 (hier S. 693‑694).
[6]. Richard Steidle war Bundesführer der Heimwehr, neben ihm zählten Walter Pfrimer, Ernst Rüdiger Starhemberg und Emil Fey zu wichtigsten Persönlichkeiten. Am 7. Oktober 1928 organisierte der steirische Heimatschutz einen Aufmarsch in Wiener Neustadt, ein Industrieort in Niederösterreich. Die Sozialdemokratie hatte in Wiener Neustadt traditionell vorherrschenden Einfluss.
[7]. Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs, abgehalten in Wien, 8. bis 10. Oktober 1929, Wiener Volksbuchhandlung, 1929, S. 18‑31 (hier S. 26‑29).
Abgedruckt in:
Otto Bauer: Werkausgabe Band 5, Europa Verlag, 1978, S. 523‑548 (hier S. 539‑544).
[8]. Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs, abgehalten in Linz, 30. Oktober bis 23. November 1926, Wiener Volksbuchhandlung, 1926.
[9]. Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs, abgehalten in Wien, 8. bis 10. Oktober 1929, Wiener Volksbuchhandlung, 1929, S. 34‑36 (vollständig).
[10]. Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs (Hg.): Jahrbuch der Österreichischen Arbeiterbewegung, Wiener Volksbuchhandlung, 1931, S. 26‑27 (vollständig).
Am 12. September 1931 unternahm Walter Pfrimer, einer der wichtigsten Heimwehrführer, einen Putschversuch, um die Heimwehren an die Macht zu bringen. Das Unternehmen scheiterte und Pfrimer floh nach Marburg. Im Dezember fand ein Gerichtsverfahren statt, das mit Freispruch endete.
[11]. Otto Bauer: Der Aufstand der österreichischen Arbeiter – Seine Ursachen und Wirkungen, Deutsche. Sozialdemokratische Arbeiterpartei (DSAP) in der Tschechoslowakei (Hg.), Prag, 1934, S. 24‑26. Der Text ist mit 19. Februar 1934 datiert.
Abgedruckt in:
Otto Bauer: Werkausgabe Band 3, Europa Verlag, 1976, S. 957‑997 (hier S. 987‑990).
[12]. Karl Renner: Nachgelassene Werke – Band 2 – Österreich von der Ersten zur Zweiten Republik, Wiener Volksbuchhandlung, 1953, S. 137‑138.